Keine völlig normale Geschichte
Während wir über den sehenswürdigen Taborfriedhof laufen, vorbei an unzähligen Gräbern, die alle stumm ihre Geschichte erzählen, beginnt es aus dem grauen Nachmittagshimmel zu regnen. Wir haben bei der Friedhofsverwaltung nach dem Standort von Marlen Haushofers Grab nachgefragt und machen rasch die Stelle aus, wo die österreichische Schriftstellerin ihre letzte Ruhe gefunden hat. Mein erster Eindruck: Das schlichte Grab passt zu Marlen Haushofer. Der Grabstein ist auf Hochglanz poliert; frische Blumen zeugen von einem kürzlichen Besuch. Während der Regen in einem anwachsenden Crescendo auf das Kies und die Pflanzenblätter klopft, ist im Hintergrund gedämpfter Lärm der Stadt zu vernehmen.
Unweigerlich fällt mir eine Textzeile aus der letzten Niederschrift von Marlen Haushofer ein:
...Auch wenn Du mit einer Seele behaftet wärest, sie wünscht sich nichts als tiefen, traumlosen Schlaf. Der ungeliebte Körper wird nicht mehr schmerzen. Blut, Fleisch, Knochen und Haut, alles wird ein Häufchen Asche sein und auch das Gehirn wird endlich aufhören zu denken.
Dafür sei Gott bedankt, den es nicht gibt.
Mach' Dir keine Sorgen - alles wird vergebens gewesen sein - wie bei allen Menschen vor Dir.
Eine völlig normale Geschichte.
Ich bin froh, dass sich Marlen Haushofer hier geirrt hat. Ihr Leben war nicht vergebens und alles andere als eine normale Geschichte. Noch heute ist sie und ihr Werk sehr lebendig in den Köpfen der Menschen und wird es auch weiterhin sein. Mit dieser beruhigenden Erkenntnis lege ich die mitgebrachten Blumen auf das Grab, und wir verlassen den Friedhof.