Kindheitserinnerungen in Effertsbach
Effertsbach liegt dort – so würde Mancher behaupten – wo sich Fuchs und Hase Gutenacht sagen. Abgelegen in einem kleinen Tal, abseits von städtischem Trubel, scheint die Zeit fast ein wenig stehen geblieben zu sein. Der trübe, bewölkte Himmel wirft fahle Schatten und lässt die riesigen Waldflächen noch düsterer, drohender erscheinen. Wolkenfetzen ziehen tief an den Bergflanken entlang, schwebend über den Baumwipfeln, während ein kühler Wind den nahenden Herbst erahnen lässt. Dieses düstere Szenario vermag so überhaupt nicht an jene unbeschwerte Kindheit erinnern, die Marlen Haushofer hier verbrachte und sie als Erwachsene massgeblich in ihrem Schreiben beeinflusst hat. Eine schmale Strasse schlängelt sich hinauf ins enge Effertsbachtal, vorbei an einer Handvoll Häuser. Rundherum erheben sich steil dicht bewaldete Hügel und betten die Talsohle schützend ein. Fast schon unerwartet erscheint es plötzlich auf der linken Seite: Das ehemalige Forsthaus Effertsbach. Unschwer aus alten Bildern zu erkennen, liegt es leicht erhöht über der Strasse. Dem Gebäude sind die Jahre nicht anzusehen. Es hinterlässt einen sehr gepflegten Eindruck und wirkt so lebendig, dass sich unweigerlich die Vorstellung aufdrängt, jeden Moment müsse die Haustüre aufspringen und die kleine Marlen ins Freie stürzen. Doch sie bleibt zu…die Haustüre…weil so viele Jahre inzwischen vergangen sind.
Das Haus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut und diente dem Förster des Lambergschen Forstbesitzes als Dienstwohnung, während das obere Stockwerk bis 1920 dem Jagdpächter zur Verfügung stand. Zwischen 1919 und 1953 wurde es von den Eltern Marlen Haushofers bewohnt und ging 1955 in den Besitz der Österreichischen Bundesforste über. Heute ist es in Privatbesitz.
Marlen Haushofer stand das grosse gelbe Forsthaus mit seiner Umgebung, dem Bach und dem nahegelegenen Wald immer wieder Modell für ihre Geschichten. So auch im Roman „Himmel, der nirgendwo endet“ und in den Kinderbüchern „Brav sein ist schwer“ sowie „Schlimm sein auch kein Vergnügen“. Regelmässig besuchte die Autorin ihre Heimat, obschon ihr die Rückkehr an den Ort ihrer glücklichen Kindheit immer schwerer fiel. Mitte der sechziger Jahre schrieb sie einem befreundeten Psychologen, dass sie nun nie mehr dorthin zurückfahren wolle. Sie fühle sich zu sehr auf die Erinnerung angewiesen, und die Realität schmerze sie zu sehr (aus dem Katalog zur Ausstellung „Marlen Haushofer 1920 – 1970“).
Die Lackenhütte
Rund eine Stunde Fussmarsch vom Forsthaus entfernt, liegt die sogenannte Lackenhütte. Diese Jagdhütte, die noch heute in nahezu unverändertem Zustand erhalten ist, wurde 1924 als Unterkunft für den Förster und die Jagdpächter erbaut, daneben befand sich eine kleine Hütte für die Holzknechte. Marlen ging mit ihrem Vater oft zur Lackenhütte und unternahm von dort aus auch längere Wanderungen. Ein breiter Forstweg schlängelt sich entlang des Effertsbach durch das Waldgebiet hoch zur Hütte, welche sich, von Bäumen umgeben, auf einer kleinen Anhöhe befindet. Anscheinend soll die Jagdhütte Marlen Haushofer als Vorbild für die Almhütte gedient haben, in welcher die Protagonistin aus „Die Wand“ ihre einsamen Stunden verbrachte.