Die wichtigen Jahre (1960 – 1965)
Reif für den Geniestreich
Das Jahr 1960 brachte der Familie Haushofer einen erneuten Umzug, der jedoch Marlens Arbeitssituation entscheidend verbesserte. Hier in dieser neuen Wohnung (Taborweg 19) sollte Marlen ihre drei wichtigsten Bücher schreiben. Das Zweifamilienhaus lag jenseits des Flusses Steyr auf einer Anhöhe im Stadtteil Tabor. Marlen freute sich auf die neue Wohnung, es gebe dort genug Luft und Licht und kaum Lärm. Das Haus hatte einen Garten und sogar Zentralheizung, in Zukunft musste Marlen „im Winter nicht mehr bitter frieren“, wie sie in einem Brief an Hans Weigel schrieb.
Im November 1960, nachdem der Sohn Christian in den Militärdienst eingerückt war, schien die Zeit reif für Marlen Haushofers Geniestreich. „Der Stoff zur Wand muss immer schon dagewesen sein“, sagte sie in einem Interview. „Ich habe ihn mehrere Jahre herumgetragen, aber ich habe mir nicht einmal Notizen gemacht (…). Ich habe auch mit niemandem darüber gesprochen.“ (1) Die Umstände waren günstig in der geräumigen, hellen Wohnung, wo Marlen ihre Ruhe zu finden schien. Am liebsten setzte sie sich an den Tisch der Wohnküche, wo das Fenster den Blick auf den Garten hinaus eröffnete. Sie nahm sich nun jeweils nachmittags zwei, drei Stunden, um zu schreiben, weil ihr „mein früher Morgen einfach zu früh“ geworden war. „Das ist zwar nicht die ideale Zeit und auch das ist nur möglich geworden, weil meine Kinder erwachsen geworden sind und ich in diesen drei Stunden alleine bin. Der Abend gehört der Familie. Da auch die Wochenenden wegfallen und häufig nachmittags etwas Unaufschiebbares dazwischen kommt, bleiben mir zum Schreiben durchschnittlich drei Nachmittage.“ (2) Daneben führte die Schriftstellerin das normale Familienleben. Im Sommer benutzte man den Swimmingpool im Garten, grillierte, abends lief der Fernseher meist bis Sendeschluss. Die Freundin Inge (Manfreds ehemalige Geliebte) gehörte inzwischen wieder praktisch zur Familie und besuchte die Haushofers fast täglich. Marlen rauchte ihre Reno-Mentholzigaretten; ab neun Uhr abends war sie als Morgenmensch meist sehr müde. Wenn Marlen alleine sein wollte, waren der sonst schon eher kontaktscheuen Frau Nachbarn ein Gräuel. „Von mir aus“, meinte sie einmal, „sollen sie sich Dinosaurier im Garten halten, wenn sie mich nur in Ruhe lassen“. (3)
Die Wand
Die erste Niederschrift des späteren Buches Die Wand schrieb Marlen Haushofer in ein liniertes Schreibheft von Hand, weil sie das „Geklapper der Maschine störte“. (4) Das erste Schreibheft (von schlussendlich fünf) trug noch die Überschrift „Die gläserne Wand“, während bereits das zweite Heft mit dem Titel „Die Wand“ gekennzeichnet war. Der Inhalt dieser Geschichte ist schnell erzählt: Eine Frau fährt mit ihrer Cousine und deren Mann zu einem Kurzurlaub in ein Jagdhaus. Das Ehepaar macht abends einen Spaziergang ins Dorf, von dem es am nächsten Morgen nicht zurückkehrt. Bei dem Versuch, ins Dorf zu gehen und dort Ausschau nach den beiden zu halten, stösst die Frau auf eine durchsichtige Wand, hinter der es offenbar kein Leben mehr gibt, nur die Pflanzenwelt scheint unversehrt. Die Frau muss sehen, wie sie in dem vom Rest der Welt abgeschnittenen Waldgebiet überleben kann. Geblieben ist ihr der Jagdhund der Gastgeber, ihr läuft eine trächtige Kuh zu, die kurze Zeit später einen Jungstier wirft, dann gesellt sich ihr noch eine Katze dazu. Eines Tages taucht ein zweiter Überlebender der rätselhaften Katastrophe auf, ein Mann, der den Jungstier und den Hund der Frau erschlägt und dafür von ihr mit ihrem Jagdgewehr erschossen wird.
Lackenhütte
Den Einfall für diese Geschichte soll Marlen Haushofer, die gerne Krimis, Groschenromane und Science Fiction las, aus einer Ausgabe der Reihen „Utopia“ und „Terra“ haben, von denen sie eine beachtliche Sammlung besass. Der damals halbwüchsige Sohn einer befreundeten Familie wurde von Marlen regelmässig mit Lesestoff versorgt, und er glaubt sich zu erinnern, dass es eine Geschichte aus besagter Reihe gab mit dem Titel „Die gläserne Kuppel“, die von einer Gruppe Menschen handelte, welche unter dem Schutz einer riesigen Glaskuppel eine Art Eiszeit überlebte. (5) Wie dem auch sei, 1961 begann Marlen ihr Romanprojekt. Viele Bilder des Themas bezog Marlen aus ihrer Kindheitsumgebung. Die Jagdhütte, in der die namenlose Ich-Erzählerin des Romans wohnt, steht eine gute Stunde Fussmarsch vom Forsthaus Effertsbach entfernt: „Das Jagdhaus ist eigentlich eine einstöckige Holzvilla, aus massiven Stämmen gebaut und heute noch in gutem Zustand. Im Erdgeschoss ist eine grosse Wohnküche in Bauernstubenart, daneben ein Schlafzimmer und eine kleine Kammer. Im ersten Stock, um den eine Holzveranda führt, liegen drei kleine Kammern für die Gäste.“ Die sogenannte Lackenhütte, die noch heute in nahezu unverändertem Zustand erhalten ist, wurde 1924 als Unterkunft für den Förster und die Jagdpächter erbaut, daneben befand sich eine kleine Hütte für die Holzknechte. (5) Marlen ging mit ihrem Vater oft zur Lackenhütte und unternahm von dort auch längere Wanderungen. Die Alm, auf die die Erzählerin der Wand mit ihren Tieren im Sommer übersiedelt, heisst in Wirklichkeit Haidenalm. Auch die Tiere aus der Geschichte haben reale Vorbilder: Die sanfte Kuh Bella, der kluge Hund Luchs, der Kater Tiger (ein Abbild von Marlens Liebling Iwan) und die Angorakatze Perle. Die erste Niederschrift der Wand trug noch biografische Einschübe, auf die Marlen später verzichtete. Hier wäre die Protagonistin zudem noch mehr mit ihrem bisherigen Leben als Nur-Hausfrau verhaftet und von den zeitgenössischen Einflüssen aus dem Österreich der sechziger Jahre beeinflusst gewesen. (6)
Marlen Haushofer bezog die Bilder, welche sie für die Entwicklung ihrer Themen benötigte, aus der ihr vertrauten Kindheitsumgebung. Für Detailfragen stand Marlen ihr Bruder Rudolf, der ein Studium in Fortwirtschaft abgeschlossen hatte, zur Seite. Marlen Haushofers Naturverbundenheit war eher eine romantisch-schwärmerische als eine wirklich gelebte. Schon als Zwanzigjährige wollte sie sich den Touren von Jagdhütte zu Jagdhütte nicht anschliessen, und Wanderungen waren ihr als Erwachsene zu beschwerlich. Von den äusseren Umständen her ist das Leben ihrer Heldin in Die Wand also sehr weit von Marlen Haushofers eigener Lebenswirklichkeit entfernt. (7)
Von der ersten Niederschrift bis zum Abtippen der zweiten Version von Die Wand soll Marlen Haushofer nur gerade mal eineinhalb Jahre gebraucht haben. Inzwischen hatte Marlen einen Verlagswechsel vorgenommen, da sie mit dem Verkauf ihrer Bücher beim Zsolnay Verlag nicht zufrieden war. So sollte Die Wand im Herbst 1962 im Mohn Verlag erscheinen. (8)
Geteilte Meinungen
Als Hans Weigel bei Marlen Haushofer einmal nachfragte, wo denn der neue Roman bleibe, soll diese ihm geantwortet haben: „Der wird dir nicht g’fallen – es ist eine Katzengeschichte“. (9) Im Wiener Café Raimund, wo sich die Wiener Literaturschaffenden immer wieder trafen, übergab Marlen Haushofer schliesslich das Typoskript an Hans Weigel. Dieser war von der Geschichte begeistert und reihte „Die Wand“ unter seine wenigen „grossen Lese-Erlebnisse“, neben Balzacs Verlorene Illusionen, Stifters Abdias oder Ingeborg Bachmanns verschollenen Roman Stadt ohne Namen ein. Auch für Marlen war Die Wand ihr wichtigstes Werk: „Ich glaube nicht, dass mir ein solcher Wurf noch einmal gelingen wird, weil man einen derartigen Stoff wahrscheinlich nur einmal im Leben findet“, sagte sie 1968 in einem Interview mit Elisabeth Pablé. Jeannie Ebner erinnerte die realistische Schilderung an Adalbert Stifter: „Er beschreibt ganz einfach einen Wald, ein Haus, die Möbel darin. Und auf einmal wird es ganz weit, und die ganze Welt ist darin.“ (10)
Bei der Kritik fand Die Wand geteilte Aufnahme. Grenzenlose Begeisterung und strikte Ablehnung hielten sich die Waage (was auch heute noch so ist, wenn man die Ausführungen der Leser beachtet). Die einen Rezensenten verurteilten den Roman, weil Gott darin keine Rolle spiele und der Erzählerin die anderen Menschen nicht wirklich fehlen würden. Andere verurteilten die Geschichte als „altbackenes SF-Brot aus dem österreichischen Winkel (…) Zäh isst es sich und lange und schmeckt nach Erde (…). (11) Erst im Jahre 1964 erschienen erste Rezensionen über das Buch; im Oktober 1963 schrieb Marlen an Hans Weigel einen Brief, in welchem sie sich für seine unermüdliche Unterstützung bedankte und festhält: „Ganz ehrlich, eine Zeitlang war ich deprimiert wegen der Wand. (Ich hab noch keine einzige Besprechung). Aber jetzt kümmere ich mich nicht mehr darum und schreib das neue Buch; ganz egal ob es in der Versenkung verschwindet oder nicht. Wahrscheinlich bin ich verrückt oder unbelehrbar.“ (Mit dem angesprochenen Buch meinte Marlen Haushofer ihren Kindheitsroman Himmel der nirgendwo endet). Ein Verkaufserfolg wurde Die Wand nicht, trotz grosser Beachtung in den Medien. Dennoch war es das Buch, das zu Lebzeiten Marlen Haushofers die meisten Leser fand. Es lässt die verschiedensten Deutungen und Interpretationen zu. Selbst Marlen Haushofer deutete in einem Gespräch die Wand nicht realistisch, sondern psychologisch: „Ob die Wand je über die Menschheit kommt, jene äusserliche Wand nämlich, von der die Apokalyptiker unter den Technikern gerne reden, kann ich nicht sagen. Aber vorstellen könnte ich es mir schon. Aber, wissen Sie, jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach aussen plötzlich sichtbar wird. Haben wir nicht überall Wände aufgerichtet? Trägt nicht jeder von uns eine Wand, zusammengesetzt aus Vorurteilen, vor sich her?“ (12)
In den Jahren nach der Wand veröffentlichte Marlen Haushofer in rascher Folge zwei leichtgewichtigere Bücher: 1964 Bartls Abenteuer, das erste von insgesamt fünf Kinderbüchern und 1965 Brav sein ist schwer, das sehr bald zu einem österreichischen Kinderbuchklassiker gedieh. Die Kinderbücher stellten für Marlen Haushofer ein Kontrastprogramm zu ihren ernsten Werken dar. Das Schreiben ging ihr leicht von der Hand (an einem Buch arbeitete sie gerade mal ein bis zwei Wochen) und bereitete ihr Vergnügen. Ausserdem konnte sie in diesem Genre Geld verdienen. (13) Hans Weigel hingegen soll dieser Kinderbuchsektor ein Dorn im Auge gewesen sein. Er gönnte zwar seinen Autoren ein finanzielles Zubrot (er selbst sicherte sein Einkommen mit Molière-Übertragungen), betrachtete jedoch die kindgerechten „Schmalspurtexte von literarisch erwachsenen Autoren“ als reine Zeitverschwendung. (14) Bezugnehmend auf Weigels Haltung schrieb Marlen Haushofer einst an ihre Freundin Jeannie Ebner: „Mein regelmässiges Einkommen sind jetzt die Kinderbücher. Es fällt mir leicht sie zu schreiben, und ich finde nicht, dass es eine Schande ist. Jeder kann halt leider nicht Molière übersetzen“. (15)
Entfremdung
Mittlerweile hatte der jüngere Sohn Manfred in Bad Aussee das Gymnasium abgeschlossen und maturiert. Um Medizin zu studieren, zog er nach Wien. Christian, der Ältere, arbeitete in einem Tuchgeschäft in Linz. Bald sollte er seine zukünftige Frau kennen lernen und einen zweiten Bildungsweg beschreiten (nach der Matur noch ein Wirtschaftsstudium absolvieren), und so seiner Mutter zeigen, dass die Lernschwierigkeiten etwas mit seiner familiären Umgebung zu tun gehabt hatten. Marlen hingegen ging es gesundheitlich nicht gut. Sie erhielt wegen Schwindelanfällen und akuter Anämie Infusionen und fühlte sich matt und zerschlagen. Trotzdem arbeitete sie an dem Roman über ihre Kindheit, zu dem ihr Hans Weigel aufgrund den guten Erinnerungen an Das fünfte Jahr einmal geraten hatte. Motiv für das Schreiben dieser Geschichte war sicher ihre Trauer über die Entfremdung von ihrem kindlichen Ich. Sie begab sich auf die Suche nach den Spuren ihrer kindlichen Persönlichkeit und konnte sich so ihrer Kindheit nochmals etwas nähern. Die erste Fassung ihres Kindheitsromans, der später Himmel, der nirgendwo endet heissen sollte, schrieb Marlen noch unter dem Titel Das Haus. (16) Im Oktober 1963 versicherte sie Weigel, sich von der bisher enttäuschenden Resonanz zu Die Wand nicht beirren zu lassen. Sie schreibe „das neue Buch, ganz egal, ob es in der Versenkung verschwindet oder nicht. Wahrscheinlich bin ich verrückt und unbelehrbar, aber da kann man halt nichts machen. Zumindest Du wirst Dich darüber freuen, dass ich so verrückt bin“. (17) Während ihrer Arbeit an den Kindheitserinnerungen bleibt das Spannungsverhältnis zwischen dem literarischen Schaffen und den familiären Verpflichtungen weiter bestehen. Zudem wirkte der Verhältnis zwischen den Eltern Haushofer und ihren erwachsenen Kindern nicht sehr innig. Die Söhne interessierten sich nicht für die Bücher ihrer Mutter (was aufgrund ihrer erlebten Kindheit nicht erstaunlich ist) und die Nachbarn sahen den Vater und seine Söhne vielfach sonntags alleine zu Ausflügen aufbrechen, während die Mutter zu Hause blieb. (18) Ausserdem stellten die Besuche der Schwiegermutter für Marlen ein Ärgernis dar. Diese galt als verbittert und tyrannisierte die ganze Familie. Bei den eigenen Eltern fand Marlen in jener Zeit kaum Trost. Der Vater litt an Schwindelanfällen und sprach kaum mehr; das Verhältnis zur Mutter war noch immer angespannt. Mit ihr war zwar eine Verständigung möglich, nicht aber ein offenes Gespräch.
Im Sommer 1965 erhielt der Verleger Sigbert Mohn das Manuskript von Marlen Haushofers Kindheitsroman und zeigte sich davon sehr angetan. Als sie im Spätherbst ihrem Mentor Hans Weigel ein Umbruchsexemplar zusandte, zog sie eine negative Bilanz für das Jahr 1965: „Das Jahr 1965 war abscheulich. Sogar meine liebe Katze hab ich im Mai mit Chloroform umbringen müssen. Ich will auch keine mehr nehmen.“ (19)
Quellhinweise
Daniela Strigl: „Wahrscheinlich bin ich verrückt“ Marlen Haushofer – Die Biografie:
(1) Seite 244, (2) Seite 245, (3) Seite 246, (4) Seite 246, (5) Seite 248, (5) Seite 250, (6) Seite 253, (7) Seite 251, (8) Seite 256 f., (9) Seite 258, (10) Seite 258 f., (11) Seite 260, (12) Seite 264, (13), Seite 269 f., (14) Seite 272, (15) Seite 272, (16) Seite 273, (17) Seite 273, (18) Seite 275, (19) Seite 28